Hilfe! Arp-Schnitger-Orgel pfeift aus dem letzten Loch
Ein vergessenes Werk des berühmten Erbauers stammt aus Hamburg, und von Hamburg aus soll es jetzt gerettet werden
Von HANNA-LOTTE MIKUTEIT

Arp-Schnitger-Orgel
Im Inneren des Instruments. Der Pfarrer Johannes Reuschel (47) inspiziert die Pfeifen der Orgel, auf der seine Frau oft spielt. Zumindest die kleineren Pfeifen stammen von Arp Schnitger. Der berühmte Baumeister hatte die Orgel 1708 für die Kirche in Hamburg-St. Georg gebaut. Das Instrument hat heute eine bewegte Geschichte hinter sich und ist vielfach umgebaut worden. Fotos: KLAUS BODIG

Lenzen - Mit sicherem Griff zieht Cornelia Reuschel (48) die Register. "Gedackt 8'" braucht einen besonderen Ruck. "Die Traktur ist schwerfällig", sagt die Kantorin der Lenzener St.-Katharinen-Kirche mit einem kleinen Lächeln. Vor ihr liegen die Noten von "Komm Herr, segne uns". Einen Augenblick ist es still, dann erfüllt der Choral die gotischen Backsteinmauern. Erhaben klingt das, warm und voll. Auch wenn zwischendrin die Pedalen klappern und in einigen Tönen zu viel Luft ist. "Manche kommen gar nicht", sagt die Kirchenmusikerin und Pfarrersfrau. "Trotzdem spiele ich sehr gern auf dieser Orgel."

Cornelia Reuschel
Kantorin Cornelia Reuschel (48) zieht die Register "ihrer" Orgel.

Tatsächlich ist das Instrument in dem kleinen verschlafenen Elbstädtchen in der Prignitz etwas Besonderes: Es gilt als ein nahezu unbekanntes Werk des berühmten norddeutschen Orgelbauers Arp Schnitger (1648-1719). Eine Aufsehen erregende Entdeckung, die nun aus langem Dornröschenschlaf geweckt werden soll - mit maßgeblicher Unterstützung aus Hamburg.
Der Hamburger Orgelsachverständige Günter Seggermann (80) war es, der im Staatsarchiv jene Dokumente fand, die die Existenz der Schnitger-Orgel belegen. Jetzt haben der aus Hamburg stammende Wahlmecklenburger Günter Lucht (64) und Katharinen-Pfarrer Johannes Reuschel (47) einen Orgelverein in Lenzen gegründet, der die Restaurierung vorantreiben will.
Eine grau gestrichene Holztür an der Seite des barocken Orgelprospekts, dahinter eine schmale Leiter, die ins Innere des Instruments führt. Dicht an dicht stehen die Pfeifen. "Diese hier sind wohl von Arp Schnitger", sagt Kirchenmusikerin Reuschel und zeigt auf eine Reihe kleinerer Pfeifen. "Das ist die 'Quinte 3'` im Hauptwerk." Davor und dahinter reihen sich Hunderte älterer, aber auch jüngerer Pfeifen.
Dass nicht alles in der Lenzener Orgel von ihrem berühmten Erbauer stammt, hat mit der bewegten Geschichte des Instruments zu tun. Ursprünglich hatte Arp Schnitger sie 1708 unter Einbeziehung der Vorgängerorgel für die damalige Kirche in Hamburg-St. Georg gebaut. Dem Schriftwechsel zufolge, den der Hamburger Schnitger-Experte Seggermann fast 300 Jahre später entdeckte, lieferte der Meister ein Instrument mit 27 Stimmen und mehr als 1500 Pfeifen. Dafür erhielt er 550 Reichsthaler.


Die OrgelDie Lenzener Arp-Schnitger-Orgel hat außen ihren Glanz bewahrt.

Knapp 40 Jahre später bekam die Georgenkirche eine neues, größeres Instrument. Die Schnitger-Orgel wurde 1744 nach Lenzen verkauft und dort fast unverändert aufgestellt. Kurz darauf stürzte nach einem Brand der Kirchturm ein und begrub die Orgel unter sich. 1759 baute der Ruppiner Orgelbauer Gottfried Scholtze sie wieder auf. Sie bekam ein anderes Gehäuse, auch die Mechanik wurde erneuert. So ist die Orgel bis heute erhalten, mit wenigen Veränderungen.
"Als wir 1980 nach Lenzen kamen, spielte die Orgel gar nicht mehr", erinnert Pastor Reuschel sich. Sie wurde repariert, mehr nicht. Erst mal war die fast 600 Jahre alte Kirche mit ihren wunderschönen mittelalterlichen Fresken dran; zudem war das Geld knapp. Vermutungen, dass Schnitger die Lenzener Orgel gebaut haben könnte, habe es zwar schon länger gegeben, so Reuschel. "Aber es war nirgendwo festgehalten, und eigentlich hat sich auch niemand wirklich dafür interessiert."
Bis Günter Seggermann Ende der 80er-Jahre einen Hinweis von dem brandenburgischen Orgelsachverständigen Christhard Kirchner bekam, sofort im Staatsarchiv in Hamburg recherchierte und tatsächlich fündig wurde. "Die Unterlagen waren falsch abgelegt", sagt der Schnitger-Experte. Deshalb sei die Orgel so lange unentdeckt geblieben. "Der Fund hat große Bedeutung", sagt Seggermann.


St. Katharinen in LenzenSt. Katharinen in Lenzen ist eine gotische Backsteinkirche.

Nur 20 der 150 von Schnitger gebauten Orgeln sind in Norddeutschland erhalten, die größte steht in der Hamburger Jacobi-Kirche. Auch wenn in Lenzen nicht alles dem Original entspricht, "es ist viel von Schnitger drin". Eine Restaurierung hält der umtriebige Orgelfachmann für unbedingt notwendig.
Die Mängelliste ist lang: Fehlende Register müssen ersetzt, die Windladen repariert, die qualitativ schlechten Zinkpfeifen im Prospekt gegen solche aus Zinn ausgetauscht werden.
"Erst mal allerdings müssen wir die Menschen begeistern", meint Günter Lucht. Vor sechs Jahren war er mit seiner Frau Renate (64) aus Hamburg-Schnelsen ins mecklenburgische Görnitz bei Lenzen gezogen. Dort übernahm der Schnitger-Fan den Vorsitz des Orgelvereins. 13 Lenzener machen mit, weitere haben ihr Interesse bekundet. Das ehrgeizige Ziel: 300 000 Mark für die Restaurierung zusammenzubekommen. Noch schöner fände Lucht es, die Orgel wieder in den von Schnitger geschaffenen Urzustand zu versetzen. "Aber das", weiß der ehemalige Finanzbeamte, "ist wohl nicht bezahlbar."

 


KarteLenzen liegt an der Elbe und an der B 195. Grafik: MICHAELIS

Oben auf der Empore ist Cornelia Reuschel fertig mit dem Üben. Im Sommer wird die Orgel jeden Sonntag während des Gottesdienstes gespielt, es gibt auch Konzerte. "Sie ist schon ein Wunderwerk", sagt die Musikerin und blickt liebevoll auf den grünen Spieltisch mit den beiden Manualen. Für dieses Mal schaltet sie das Instrument aus. Doch plötzlich, eben hat die Kantorin sich weggedreht, kommt aus den Tiefen der Orgel ein langer, tiefer Ton - als ob sie sich zu Wort melden wollte.