Peter Golon:
Und er war es doch!
Schnitger und Basedow
Neuigkeiten über die Gründerjahre einer stilbildenden Orgelbauwerkstatt
(Ars organi 1998/02, Gesellschaft
der Orgelfreunde)
Die gegenwärtige Orgel in Basedow (1683 Gercke und Herbst) Photo: Roelof Kooiker
Die Fragestellung
Gustav Fock weist in seinem 1974 erschienenen Werk über "Arp Schnitger und seine
Schule" auf den Umstand hin, daß das Kirchenarchiv Basedow (Mecklenburg) "drei
von Schnitgers Hand geschriebene Schriftstücke; zwei große Dispositionen und einen
kurzen Brief" (01) bewahre und veröffentlicht Photographien
der Dispositionshandschriften St. Wilhadi Stade (02) und St.
Marien Stralsund (03).
Walter Haacke und Reinhard Jaehn zitieren 1985 als "dritte der drei im Pfarrarchiv zu Basedow erhaltenen Musterdispositionen" die der Rostocker Marienorgel und nehmen ebenfalls Arp Schnitger als Schreiber an. (04)
Dietrich W. Prost, von dem Gustav Fock auf die schon 1935 von Walter Haacke (05) erwähnten Handschriften aufmerksam gemacht worden war, hatte bereits 1966 Arp Schnitger (aus materiellen Gründen) als Schreiber der Stralsunder Disposition ausgeschlossen. (06) Nach Veröffentlichung des Fockschen Werkes bittet Prost Wissenschaftler des Stadtarchivs Stralsund um eine paläographische Untersuchung. Dabei stellt man (so Prost) fest, "daß die Dispositionshandschriften, auch diejenigen, die Dr. Fock aufgrund einer gewissen Ähnlichkeit für Abschriften von Schnitgers Hand hielt, eben nicht identisch sind mit der Handschrift des dort vorhandenen Briefes, und auch nicht mit der eines Briefes Schnitgers aus späterer Zeit" (07)
Für den Verfasser dieser Zeilen, als Pastor an St. Wilhadi an der Frage der Authentizität der einzigen schriftlichen Quelle über die 1724 verbrannte Huß/Schnitger-Orgel in der Stader Bischofskirche interessiert, wirkte diese "Berichtigung" als Anreiz, sich näher mit dem Thema Basedow zu beschäftigen.
Was folgte, war eine ausführliche Korrespondenz mit mehreren Sachkennern und - natürlich - der Blick ins Basedower Pfarrarchiv. Von diesem "Einblick" soll hier berichtet werden. Dabei konzentriert sich de Verfasser auf das Problem der Autorenschaft Schnitgers für die in Rede stehenden und - wie sich zeigen wird - weitere Dispositions- und andere Handschriften sowie auf die Frage, inwieweit Schnitger an dem Basedower Orgelneubau (1680/81 - 1683) beteiligt war.
Ein Brief aus Stade und ein unscheinbarer Zettel
Die Basedower Orgelakte (08) stellt eine insgesamt recht bunte Mischung
dar. Die Auswahl dessen, was uns überkommen ist und erhalten blieb, erscheint recht
zufällig. Sicher trug dazu der Umstand bei, daß die überwiegend wohl vom
Patronatsherren Christian Friedrich Hahn (09) und seinem Schreiber
geführten Bauakten zum großen Teil durch die Auswirkungen des 2. Weltkrieges vernichtet
wurden.
Darauf, daß Arp Schnitger mit dem durch He(i)nrich und Heinrich Herbst aus Hildesheim sowie Samuel Ger(c)ke aus Güstrow ausgeführten Neubau der noch heute erhaltenen Orgel in Basedow (10) befaßt war, haben schon andere hingewiesen. (11) So wurde behauptet, Schnitger habe das Leder für den Orgelbau in Basedow besorgt (12), was sich aus der Orgelakte so nicht belegen läßt. Grundlage für solche Vermutungen ist wahrscheinlich das einzige in Basedow vorhandene Schriftstück, das man auch formell eindeutig Arp Schnitger (er schrieb sich bis 1695 meist "Schnitker") zuweisen kann: ein Brief aus Stade vom 30. Januar 1681, verschlossen mit dem Abdruck eines Siegels, das bisher noch nicht bekannt war.
In diesem an den Hamburger Kaufmann Claus Dee (13) gerichteten Schreiben spricht Schnitger so selbstverständlich von "Mons: Hahn", daß ein vorausgegangener persönlicher Kontakt angenommen werden darf. Schnitger teilt Dee, der als Mittelsmann für Hahn in Hamburg fungiert (14), mit, daß Hahn das Leder in Hamburg oder (noch günstiger) in Stade, Schnitgers Wohnort (15), bekommen könne. Er, Schnitger, sei nach Beendigung des Orgelbaus in St. Johannis Hamburg wieder nach Stade gereist. Dort könne Hahn ihn erreichen, wenn er "vor etwas an mich suchen möchte."
Bei der weiteren Durchsicht der Basedower Orgelakte stieß nun der Verfasser auf einen auf der Rückseite als "Rechenkladde" benutzten Zettel, der auf der Vorderseite u.a. unverwechselbar die gleiche Handschrift wie die des eben genannten Briefes zeigt. Dort hat Schnitger hinter die von anderer Hand ausgeführte Auflistung der Prospektprincipale einer - wohl der projektierten Basedower - Orgel, getrennt nach im Prospekt sichtbaren und "hintersten" Pfeifen, Angaben über das benötigte Metall gesetzt. Dazu dann noch oben auf dem Blatt folgende Anmerkung: "NB die 16füßige Principal muß starck von mettal gemacht werden, sonsten bleibt sie un bestendig, und kan schwerlich Zur guten intonation gebracht werden."
Ähnliche Anweisungen über das zu verwendende Material finden sich auch auf einer von anderer Hand veränderten und mit "Specification der Stimmen" bezeichneten Disposition, die von Arp Schnitger möglicherweise als Vorschlag für Basedow geschrieben wurde. Sie weist wiederum die gleiche Handschrift auf wie der Brief vom Januar 1681 und wie im Übrigen auch die Blätter mit den Dispositionen St. Wilhadi Stade und St. Marien Stralsund (16).
Der Verfasser hat dem wohl international renommiertesten Schnitgerforscher, Cor. H. Edskes (Groningen) die drei eben genannten Dispositionen sowie andere Schriftstücke Schnitgers in Kopie vorgelegt. Edskes Beurteilung gipfelt in der Feststellung: "Die bezüglichen Handschriften sowie viele andere Schriftstücke Schnitgers stimmen m.E. trotz allerhand kleinerer Differenzen dermaßen miteinander überein, daß sie nahezu mit an Sicherheit grenzender Unwahrscheinlichkeit von einem anderen Skribent verfaßt sein könnten." (17)
Die von Haacke/Jaehn (18) ebenfalls Schnitger zugeschriebene Dispositionshandschrift St. Marien Rostock weist hingegen deutlich nicht Schnitgers Schrift auf. Sie ist auch nicht, wie die drei bisher genannten Basedower Dispositionshandschriften Schnitgers auf vollem Folio-Format geschrieben.
Dies trifft hingegen auf eine weitere Dispositionshandschrift zu, die bislang der Aufmerksamkeit der Organologen entgangen ist.
Die früheste Nachricht von der Schnitgerorgel in Cappel
Das Papier dieser Handschrift trägt das gleiche Wasserzeichen (großes B mit Krone) wie
das der Dispositionshandschriften St. Wilhadi Stade und St. Marien Stralsund. Außerdem
weisen diese drei Handschriften präzise ineinander passende Falzspuren auf.
Die Gestalt der dort beschriebenen Orgel (Oberwerk, Rückpositiv, Pedal ohne Prospektprinzipal) führt bald auf die richtige Spur: Wir haben es hier mit dem 1680 von Schnitger gebauten Instrument in der Hamburger St. Johanniskirche (jetzt in Cappel) zu tun!
Bislang war als früheste Mitteilung der Disposition dieser schönen Orgel Johann Matthesons Dispositionssammlung im zweiten Teil von F.E. Niedts "musikalische(r) Handleitung" (1721), und diese dazu noch mit einigen Fehlern, bekannt (19).
Neben dem unschätzbaren Wert dieser von des Meisters eigener Hand erstellten Dispositionshandschrift für die Geschichte der Cappeler Orgel gibt das Vorhandensein dieses Schriftstückes in Verbindung mit der Dispositionshandschrift der von Arp Schnitger vollendeten Stader St. Wilhadiorgel in Basedow einen weiteren materiellen Hinweis für die Autorschaft und Hilfen bei dem Problem der Datierung.
Die Orgeln von St.Wilhadi Stade und St.Johannis Hamburg (Cappel) als
Referenzobjekte
1680, drei Jahre nachdem sich Schnitger selbständig gemacht und seither mehrere Neubau-,
Umbau- und Reparaturarbeiten im Brem-Verdenschen durchgeführt hatte, wurde man in Hamburg
auf den jungen Meister aus der Nachbarstadt aufmerksam und übertrug ihm den Neubau einer
Orgel in der ehemaligen Klosterkirche St. Johannis. Eine nicht zu unterschätzende
Bedeutung muß dabei das Beispiel der von Schnitger 1678 vollendeten großen Orgel in St.
Wilhadi zu Stade gespielt haben. Zumindest mag der Orgelbauer selbst dies so gesehen
haben, denn als der Bildhauer Christian Precht sich auf Bitten seines in Schweden tätigen
Bruders Burchardt Precht in Hamburg nach einem geeigneten Orgelbauer für die Domorgel in
Uppsala umgesehen und Arp Schnitger (damals schon in Hamburg St. Johannis an der Arbeit)
um Kontaktaufnahme mit der schwedischen Stadt gebeten hatte, erwähnt dieser in einem am
4. Juni 1680 an Burchardt Precht gerichteten Brief namentlich seine Arbeiten in St.
Wilhadi Stade und St. Johannis Hamburg. (20)
Ganz ähnlich dürfte die Kommunikation mit Basedow gelaufen sein: Christian Friedrich Hahn erkundigt sich bei dem (ihm durch seine Funktion am Güstrowschen Hofe bekannten?) Kaufmann Claus Dee in Hamburg nach einem geeigneten Orgelbauer. Dee nennt ihm Arp Schnitger. Der stellt sich und seine Arbeit u.a. mit den Dispositionshandschriften von St. Wilhadi Stade und St. Johannis Hamburg vor.
Wer will ernsthaft behaupten, daß im oder um das Jahr 1680 im mecklenburgischen Basedow jemand anderes als der damals noch unbekannte junge Meister selbst Nachricht über zwei seiner bislang wenigen Orgelneubauten gegeben hat? War die Orgel in der schwedischen Festung, dem abseits gelegenen Elbstädtchen Stade doch erst gerade fertiggestellt, die Orgel in St. Johannis wahrscheinlich sogar noch im Bau. Für diese Annahme sprechen folgende Beobachtungen: Überschreibt Schnitger die Dispositionen St. Marien Stralsund (21) und St. Wilhadi Stade jeweils mit "VorZeuchnus der Stimmen so in der Neuen Orgell zu..:", fehlen solche Überschriften bei der "Planungsdisposition Basedow" und der von St. Johannis Hamburg ganz.
Zur Datierung der Basedower Dispositionshandschriften
Man wird daraus mit einigem Recht schließen können, daß Schnitger in Hamburg noch bei
der Arbeit war - oder dieses Projekt sogar erst kurz bevorstand. Unterstützt wird diese
Annahme durch folgende Beobachtung: Die Basedower Handschrift des Orgelmachers setzt für
die Prospektprinzipale in Oberwerk und Rückpositiv "klahr Zin" voraus,
die heute in Cappel befindliche Orgel weist aber als originale Schnitgersche
Prospektpfeifen solche mit 14löthigem Zinn (87%ig) (22) auf. Auch
plante Schnitger, in den Prospekt des Oberwerkes G, A und B "von 16fueß"
und entsprechend im Rückpositiv G, A, B und H "von 8fs" zu stellen,
während die ehemalige Johannis-Orgel heute im Hauptwerk lediglich Kontra A und H (stumm)
und im Rückpositiv Kontra A, B und H (stumm) zeigt. (23)
Man wird also Schnitgers Basedower Dispositionshandschriften, die "Basedower Planungsdisposition" zunächst ausgenommen, auf Frühjahr oder Sommer 1680 datieren müssen. (23)
Auf welchem Wege aber gelangten nun die Schnitgerschen Schriftstücke nach Basedow? Wurden Sie von Claus Dee an Christian Friedrich Hahn geschickt, sprach Schnitger, wie Fock vermutet, selbst in Basedow vor (23) oder wurde er gar während seiner Tätigkeit in St. Johannis Hamburg von Hahn und anderen an der Planung beteiligten Personen aufgesucht? Ein Zusammentreffen in der Hansestadt scheint immerhin möglich gewesen zu sein, heißt es doch in einem in der Basedower Orgelakte abgelegten, leider undatierten und nicht unterzeichneten Arbeitsnachweis: "Alß die hern nach hamborg margirt(?), Ahn (?) dem kleinen wagen gearbeitet 2 tag."
Letztlich werden die Fragen unbeantwortet bleiben müssen. Auf jeden Fall aber hat es 1680/81 einen Kontakt zwischen Schnitger und Hahn gegeben. Dafür spricht der Brief Schnitgers vom 30. Januar 1681. Auch wird man voraussetzen dürfen, daß dem Meister die Verhältnisse in der Basedower Kirche bekannt waren, als er seine "Basedower Planungsdisposition" schrieb, die übrigens von allen in den Orgelakten befindlichen Plandispositionen (es sind - zählt man die veränderten hinzu - sechs) dem endgültig von Henrich und Heinrich Herbst sowie Samuel Gerke gebauten Werk am nächsten kommt, insbesondere im Pedal (Octav 4 und Cornet 2 weist nur seine Handschrift auf). Hier den Weg der Planung genauer zu verfolgen und zu erforschen, wäre sicher reizvoll.
Mensurangaben für St. Wilhadi Stade und Basedow?
Es scheint bisher ebenfalls unbeachtet geblieben zu sein, daß auf der Rückseite der
Dispositionshandschrift St. Wilhadi Stade mit dem Zirkel Weitenmensuren angerissen sind.
Der äußere von drei Kreisen hat einen Durchmesser von 238 mm, also ziemlich genau 10
Zoll des Hamburger Fußmaßes (1 Hamburger Fuß = 286,5 mm). Es handelt sich dabei sicher
um die Weite des C im Prinzipal 16 des Pedalwerkes. Diese Pfeife wählte(n) Huß
und/oder Schnitger als Ausgangspunkt für die geometrische Konstruktion der Wilhadiorgel.
Eine solche gegenüber der kurz zuvor von Huß und Schnitger gebauten Orgel in St. Cosmae
zu Stade (dort C des 16-Prinzipals im Pedal 220 mm) beachtliche Weite wird ihren
Grund sicher in den akustischen Verhältnissen von St. Wilhadi haben, zumal die Orgelbauer
dazu noch C, D, E. F und Fs "gedubbelt" ausführten. Erasmus Bielfeldt
wählt 60 Jahre später für die neue Wilhadi-Orgel ein Weitenmaß von einem Hamburger
Fuß für C im 16-Prinzipal des Pedals!
Auch in St. Johannis Hamburg (jetzt Cappel) ging Schnitger von einer solchen festen Größe aus: Er wählte als Ausgangspunkt C des Prinzipals 8 im Hauptwerk mit 6 Zoll (1/2 Hamburger Fuß). (23)
In diesem Zusammenhang wird dann - und das sei die letzte Beobachtung bei unserem "Einblick" in das Basedower Archiv - ein weiterer Zettel interessant. Auf diesem Blatt sind Weiten für 2, 4, 8 und 16 verzeichnet. Der äußere Kreis ist bezeichnet mit "16 fuß lang biß andas Kern stück 8 Zoll Weit." Bemerkenswert ist nun, daß der Durchmesser dieses Kreises 191 mm beträgt, also präzise acht Zoll des Hamburger (!) Fußmaßes. Sollte es sich hierbei um einen Mensurvorschlag Schnitgers für die Basedower Orgel handeln? (23)
Noten:
Verwendete Literatur